Testraum Wirklichkeit

Vom digitalen Maschinenbauteil bis zum innovativen Mobilitätsangebot: Neue Produkte und Dienstleistungen müssen sich in komplexe wirtschaftliche, technische und rechtliche Umfelder einfügen. Als Testräume für Innovationen kommen daher zunehmend »Reallabore« ins Spiel, in denen Technologien oder Geschäftsmodelle unter annähernd realen Bedingungen erprobt werden können. Sie könnten Europa helfen, im globalen Innovationswettlauf aufzuholen. 

© Martin Albermann
»Wer eine Innovation etablieren will, hat es mit systemischen Problemen zu tun« Bernd Bienzeisler, Leiter des KODIS am Fraunhofer IAO

Die Frage, wie die digitale Welt von morgen aussehen wird, könnte sich auch im Norden von Heilbronn entscheiden. Denn hier, auf einem 23 Hektar großen Stück Land zwischen einem Gewerbegebiet, dem Neckar und der A6, wird ab 2024 ein neues Wertschöpfungszentrum für Künstliche Intelligenz errichtet, das ab 2027 der Hauptsitz des »Innovation Park Artificial Intelligence« (Ipai) sein wird. Ipai selbst wurde bereits 2022 in Heilbronn gegründet, doch am künftigen Standort soll er zu einem der relevantesten Innovationsökosysteme für angewandte Künstliche Intelligenz (KI) in Europa heranwachsen. Das Land Baden-Württemberg unterstützt das Projekt mit einer Anschubfinanzierung in Höhe von 50 Millionen Euro, weitere Mittel werden durch die Dieter Schwarz Stiftung bereitgestellt.

Das Ziel ist es, einen Ort zu schaffen, an dem Akteurinnen und Akteure aus Forschung, Bildung, Wirtschaft, Politik und Gesellschaft zusammenkommen, um gemeinsam an Zukunftslösungen zu arbeiten. Denn im Alleingang, das lehrt die Erfahrung, bewegt man heutzutage nichts mehr. Wer Märkte von morgen erobern will, muss Allianzen schmieden. »Die Komplexität, sowohl der Probleme als auch der Lösungen, nimmt zu«, sagt KODIS-Leiter Bernd Bienzeisler. Ob klimagerechte Stadtentwicklung, Energie- oder Mobilitätswende: Die Herausforderungen, vor denen wir als Gesellschaft stehen, sind gewaltig. Wenn wir sie meistern wollen, müssen wir die moderne Gesellschaft effizienter organisieren. 

Künstliche Intelligenz und Quantencomputing etwa können dabei helfen, sie sind aber nur Mittel zum Zweck. Und so bleibt die Frage: Wie setzen wir sie ein? Beispiel Mobilitätswende: Intelligente Sharing-Angebote könnten helfen, die Zahl der PKW drastisch zu reduzieren, was dem Klima helfen würde. Doch wie schafft man diese Angebote? Wie sehen die technischen Lösungen aus? Wie verknüpft man verschiedene Mobilitätsformen miteinander? Welche rechtlichen Hürden gilt es zu überwinden? Und wie überzeugt man eigentlich Kundinnen und Kunden von einer neuen Technologie?

»Wer eine Innovation etablieren will, hat es mit systemischen Problemen zu tun«, so Bienzeisler. Lösungen finde man daher nicht im stillen Kämmerlein, sondern, indem man in den Dialog mit anderen trete und transdisziplinäre Kooperationen starte. Es gehe, so Bienzeisler, darum, unterschiedliche Wissensquellen anzuzapfen und ein Problem aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten, um tragfähige Lösungen zu entwickeln. »Wir sprechen hier von ›Open Innovation‹«, sagt Bienzeisler. »Nur wer Forschungs- und Entwicklungsnetzwerke knüpft, kann im internationalen Wettlauf mithalten.«

Die Vielzahl der Einflussgrößen, die auf neue Technologien und Geschäftsmodelle einwirken, bringt aber noch ein Problem mit sich: Man kann Innovationen, die sich in komplexe Umfelder einfügen müssen, mit herkömmlichen Mitteln kaum testen. »Simulationen und Modelle greifen zu kurz, weil sie die Wechselwirkungen der Innovation und ihrer Umwelt nur unzureichend abbilden können«, sagt Bernd Bienzeisler. Die Wirklichkeit folgt eben keinen simplen Mechanismen, sondern verhält sich eher wie eine Blackbox: Man kann etwas hineingeben, weiß aber nie genau, was dann passiert. Funktioniert die Technologie wie geplant? Wird das Produkt von den Kunden angenommen? Wie verhält sich die Konkurrenz? Wie reagiert der Gesetzgeber? Viele Entwicklungen lassen sich schlicht nicht vorhersagen.

Zugleich sind Unternehmen und Gesellschaft aber vermehrt darauf angewiesen, dass neue Technologien getestet werden. Was tun? An dieser Stelle kommt eine neue Innovationsmethode ins Spiel, die helfen soll, das Dilemma zu lösen: das Reallabor. Bei diesem Konstrukt handelt es sich um einen zeitlich und oft räumlich oder sachlich begrenzten Testraum, in dem innovative Technologien oder Geschäftsmodelle unter realen Bedingungen erprobt werden. »Diese Experimentierräume sind eine Möglichkeit, die Innovation und ihre Wechselwirkungen mit Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Wissenschaft in einem klar definierten Umfeld zu testen.«

© Nico Kurth
»Reallabore sind von wachsender Bedeutung, weil Innovationszyklen immer kürzer werden.« Paul-Ole Anduschus, Co-Autor der Studie »Innovationsmethode Reallabor«

Ein Beispiel dafür ist das »Karlsruher Reallabor Nachhaltiger Klimaschutz«, kurz: KARLA. Die 2020 ins Leben gerufene Initiative soll der Stadt helfen, eine klimafreundliche Zukunft anzusteuern und startet seither praxisnahe »Experimente« in den Bereichen Bauen und Wohnen, Mobilität, Energieversorgung und Ernährung. Im Zentrum steht zum Beispiel die Frage, wie sich klimafreundliches berufliches Reisen fördern lässt. Oder, wie nachhaltiger Klimaschutz im Bauwesen vorangebracht werden kann. Im Rahmen von Initiativen wie KARLA arbeiten Forschungseinrichtungen, Hochschulen, Kommunen und andere staatliche Institutionen, Nichtregierungsorganisationen und Unternehmen zusammen, an zukunftsfähigen Lösungen von morgen. Im Kern geht es darum, gesellschaftliche Lernprozesse anzustoßen – insofern verstehen sich Reallabore als Pioniere des Wandels.

»Reallabore sind von wachsender Bedeutung für die Gesellschaft, weil Innovationszyklen immer kürzer werden«, sagt Paul-Ole Anduschus. Der 28-jährige studiert an der RWTH den Masterstudiengang Governance of Technology and Innovation und hat im Rahmen eines Praktikums am KODIS an der Studie »Innovationsmethode Reallabor« mitgearbeitet, die im März 2023 veröffentlicht wurde. Die Zahl der weltweit jährlich eingereichten Patente im Bereich KI etwa habe im Jahr 2021 mehr als 140 000 betragen. »Das sind 30 Mal so viele wie noch 2010«, so Anduschus. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung spielten Reallabore eine wichtige Rolle im globalen Innovationswettlauf, bei dem Europa vor der Herausforderung steht, zur übermächtigen Konkurrenz in den USA und China aufzuschließen.

Rund 100 Reallabore gibt es Untersuchungen zufolge derzeit in Deutschland. Ziel der Studie »Innovationsmethode Reallabor« des KODIS ist es, einen systematischen Überblick über die Testräume zu geben, die ganz unterschiedlich organisiert sein können. »Wir haben eine Typologie entwickelt, mit deren Hilfe wir sieben unterschiedliche Arten von Reallaboren identifizieren konnten«, so Anduschus. Eine davon sind »Demonstratorenwelten« wie die Smart Factory OWL in Lemgo/Ostwestfalen-Lippe. In dieser gemeinsamen Einrichtung des Fraunhofer IOSB-INA und der Technischen Hochschule OWL können Unternehmen und Forschungseinrichtungen gemeinsam an der Gestaltung der Fabrik der Zukunft arbeiten. Eine andere sind »Modulare Living Labs« wie das »Hospital Engineering Labor« des Fraunhofer InHaus Zentrums in Duisburg. Hier findet sich auf etwa 350 Quadratmetern eine originalgetreue Nachbildung eines Krankenhauses, die es zahlreichen Akteuren – vom Arzt bis zum Ausstatter – ermöglicht, Innovationen in einem fast realen Umfeld transdisziplinär zu testen. »KARLA« in Karlsruhe ist nach dieser Typologie ein »Urban Living Lab«, das stets die ganzheitliche Stadtentwicklung im Fokus hat.

»Gerade bei Reallaboren, die in den urbanen Kontext eingebettet sind, kann es passieren, dass die Innovationen mit dem bestehenden Rechtsrahmen nicht vereinbar sind«, sagt Paul-Ole Anduschus. Im Rahmen seiner Recherche stieß er auf ein Projekt, bei dem Lieferroboter getestet werden sollten, die laut Straßenverkehrsordnung streng genommen nicht hätten eingesetzt werden dürfen. »In solchen Fällen können Experimentierklauseln, die rechtliche Grundlage für Reallabore schaffen«, so Anduschus. Dabei handelt es sich um vom Gesetzgeber vorgesehene Ausnahmeregelungen, die im Grunde die Entwicklungsfähigkeit einer Gesellschaft garantieren sollen. »Reallabore«, sagt Anduschus, »können auch dazu dienen, herauszufinden, wie ein Rechtsrahmen angepasst werden muss.«

Der Ipai, der im Norden von Heilbronn entsteht, könnte der Typologie der Studie entsprechend ein »Innovationsareal« werden, in dem zahlreiche unterschiedliche Reallabore angesiedelt werden. Zugleich kann der Technologiepark selbst auch ein Reallabor sein, dessen bauliche und technische Infrastruktur für Forschungs- und Innovationszwecke genutzt wird. Hierfür sollen bereits in der Bauplanung entsprechende Flächen und Nutzungen vorgesehen werden. Darüber hinaus sind am Ipai neben einem Start-up-Innovation Center auch ein Besucher- und Schulungszentrum, ein Rechenzentrum und ein KI Salon, der das Thema »Künstliche Intelligenz« im Dialog mit den Bürgern vermitteln soll, geplant.

Und so wird es hier künftig zum einen darum gehen, KI-Anwendungen zu entwickeln. Zum anderen aber sollen neue Technologien auch in konkreten Situationen angewendet und erprobt werden, um so die Chancen und Risiken von Technologien zu vermitteln.  Denn am Ende hängt die Innovationskraft einer Gesellschaft nicht allein von der Technologie ab – sondern von der Fähigkeit der Menschen mit ihrer Hilfe komplexe Probleme zu lösen. 

Studie

 »Innovationsmethode Reallabor«

Projekt

»Wissenschaftliche Begleitung Ipai«

Veranstaltungsreihe

»KI-Dialog«