Am 4. Juli 2023 fiel der Startschuss für eine neue Partnerschaft: KODIS hat mit dem »Heilbronner Chapter« eine lokale Gruppe des Vereins »Women in AI and Robotics« gegründet. Die Organisation ist ein globales Netzwerk, das sich seit seiner Gründung 2021 dafür einsetzt, Frauen aus der KI-Welt zu vernetzen, zu fördern und neue weibliche Fachkräfte für diese Branche zu gewinnen. Zudem unterstützt sie KODIS dabei, die Community in der Region zu entwickeln.
»Unser Ziel ist es, einen Rahmen zu schaffen für Begegnung, Austausch und Unterstützung«, sagt Anamaria Cristescu. Die wissenschaftliche Mitarbeiterin am KODIS hatte das Ganze initiiert und organisiert den Aufbau der Gemeinschaft. »Wir wollen Frauen mehr Sichtbarkeit verleihen. Deswegen laden wir zu unseren Events nur weibliche Speaker ein.« Die Resonanz sei sehr positiv. »Es ist, als hätten die Frauen nur auf so etwas gewartet. Alle spüren die Notwendigkeit, aktiv zu werden.«
Großer Handlungsbedarf
Tatsächlich ist der Handlungsbedarf groß. Frauen sind in der Tech-Branche stark unterrepräsentiert. Laut einer Studie des Beratungsunternehmens McKinsey aus 2023 liegt in Deutschland der Anteil an Frauen mit einem Bachelor-Abschluss in einem MINT-Fach bei 22 Prozent und ist damit niedriger als im EU-Schnitt (32 Prozent). Nur 23 Prozent der Absolventinnen übernehmen beim Einstieg ins Berufsleben eine Tech-Rolle, bei Männern sind es mit 44 Prozent fast doppelt so viele.
Erschwerend kommt hinzu, dass viele Frauen den IT-Bereich wieder verlassen. Karen Holtzblatt und Nicola Marsden haben für ihr Buch »Retaining Women in Tech: Shifting the Paradigm« dieses Phänomen untersucht und festgestellt: Frauen brauchen in diesem Job nichts anderes als Männer. Aber sie erleben dort ganz andere Dinge, weil ihnen anders begegnet wird. Ein zentrales Problem sei, dass technische Kompetenz als männlich verortet werde. »Das führt zum sogenannten Prove-it-again-Bias«, sagt Marsden, die an der Hochschule Heilbronn eine Professur für Sozioinformatik innehat. »Während die technischen Fähigkeiten der Männer nicht hinterfragt werden, müssen sich Frauen immer wieder beweisen. Das zermürbt.«
Dabei könnten Frauen die Lösung für das Fachkräfteproblem sein. Denn was die McKinsey-Studie auch ergab: In Europa werden bis 2027 1,4 bis 3,9 Millionen Arbeitskräfte im Technologieumfeld fehlen, 780 000 allein in Deutschland. Nur mit Männern lasse sich die steigende Nachfrage nicht decken. Könnte man die Anzahl der Frauen in dem Zeitraum auf 45 Prozent erhöhen, würde das nicht nur die Talent-Lücke schließen, sondern auch Europas Innovationsfähigkeit stärken.
Auch aus einem anderen Grund ist es wichtig, den Frauenanteil in der Tech-Welt zu erhöhen. In der KI-Branche hat der Mangel an weiblichen Fachkräften Nachteile für die Frauen selbst, wenn KI-Systeme von rein männlichen Teams entwickelt und getestet werden.
Denn Maschinen lernen von den eingespeisten Daten. Sind diese fehlerhaft, verzerrt oder nicht vorhanden, weil niemand auf die Idee kam, etwa bei der Erhebung Geschlechterunterschiede zu berücksichtigen, ergibt das Lösungen, die Frauen schaden oder ihre Bedürfnisse nicht berücksichtigen: Sie könnten im Bewerbungsprozess übersehen werden, Kredite nicht bewilligt bekommen. Aus der Medizin ist bekannt, dass Frauen aus klinischen Studien oft ausgeschlossen werden. Bei der Entwicklung von Medikamenten orientiert man sich am männlichen Durchschnittskörper. Auch Herzinfarkte äußern sich bei Frauen anders. Da dies aber nicht ausreichend erfasst und berücksichtigt wird, kann es zu Fehlversorgungen führen. Die Liste ist endlos. Eine Fülle an Beispielen für diesen Data Gender Gap aus vielen Lebensbereichen hat die britische Autorin Caroline Criado-Perez in ihrem Buch »Unsichtbare Frauen« zusammengetragen.
Wenn dann rein männliche Teams neue KI-Lösungen testen, fallen Verzerrungen nicht auf. Expertinnen und Experten sprechen von einem Kreislauf der Diskriminierung. »Die KI spiegelt unsere gesellschaftlichen Bias«, erklärt Prof. Marsden. »Werden sie nicht korrigiert, können sich Stereotype und Vorurteile verstärken und verfestigen.« Gleichzeitig biete aber gerade die Künstliche Intelligenz die große Chance, solche Vorurteile zu durchbrechen. »Das Großartige ist: Wenn ich dem System sage, hier ist ein Bias, und so können wir den beheben, macht es das auch.«
Wichtige Weichen stellen
Doch die Zeit drängt, das Thema KI hat Fahrt aufgenommen und jetzt ist die Gelegenheit, wichtige Weichen zu stellen für mehr Gerechtigkeit – übrigens auch für Minderheiten. KODIS möchte daran mitwirken, auch weil mit IPAI in Heilbronn ein einmaliger Technologiepark für die Entwicklung von KI-Produkten entsteht. »Wir setzen uns dafür ein, ethisch verantwortungsvolle Lösungen zu ermöglichen, die allen dienen«, sagt Projektleiterin Cristescu. Mehr Diversität in den Teams hätte auch weitere Vorteile: »Sie sind effektiver in der Zusammenarbeit, kreativer und innovativer, erkennen Verzerrungen in den Daten und Systemen schneller und entwickeln aufgrund der vielen Perspektiven am Ende Produkte für mehr Menschen – Frauen machen immerhin fast die Hälfte der Bevölkerung aus.«
Auch mehr Interdisziplinarität in den Teams sei wünschenswert. Daher versucht die Initiative nicht nur, mehr Frauen für die IT-Branche zu begeistern, sondern verfolgt auch den Ansatz, Quereinsteigerinnen für die KI-Branche weiterzuentwickeln. Dafür untersuchen KODIS und Prof. Marsden gemeinsam in einer Studie, welche neuen Rollen in den KI-Innovationsökosystemen entstehen, und welche Rollen Frauen, auch fachfremde, darin spielen könnten. »Unser Ziel ist es, konkrete Weiterbildungsbedürfnisse und Interessen von Frauen zu identifizieren und darauf aufbauend Handlungsempfehlungen für Unternehmen zu formulieren«, erklärt Cristescu, die Leiterin der Studie. »Wir wollen zudem Personalverantwortliche in Unternehmen fragen, ob sie dieses Potenzial im Blick haben und wie sie Frauen im eigenen Betrieb für den KI-Bereich qualifizieren«. Zur Unterstützung der Weiterbildung könnten Unternehmen beispielsweise Zugang zu Lernplattformen wie Coursera, Udacity oder Udemy finanzieren oder ihnen Zeit zugestehen, um auf dem kostenlosen KI-Campus Kurse zu belegen, wo KI-Themen kompakt und verständlich aufbereitet sind. »Das wäre sinnvoller, als verzweifelt nach IT-Frauen zu suchen, die es nicht gibt.«
Dr. Safa Omri, ursprünglich aus Tunesien, studierte am Karlsruher Institut für Technologie und promovierte dort später in Mathematik mit Schwerpunkt Informatik. Seit März 2023 forscht sie am KODIS im Bereich Digital Service Transformation zu KI-Modellen und deren Zertifizierung. Neben ihrer akademischen Laufbahn ist Safa Mitbegründerin eines Start-ups, das KI-Initiativen vorantreibt.
»Als promovierte Mathematikerin im Bereich Maschinelles Lernen habe ich von Anfang an in einem technisch orientierten und männlich geprägten Umfeld gearbeitet. Dabei war ich oft die einzige Frau.
Entgegen der verbreiteten Meinung, Frauen würden in solchen Bereichen nicht ernst genommen, möchte ich betonen, dass mir immer viel Respekt und Anerkennung entgegengebracht wurde. Dennoch erfordert es Mut und Selbstvertrauen, als Frau in einem solchen Umfeld sichtbar zu sein und eigene Ideen voranzutreiben. Ich ermutige Frauen daher, ihre Stimme einzusetzen und sich zu behaupten – dies ist der Schlüssel, um auf Augenhöhe anerkannt zu werden.
Dennoch bleibt es notwendig, Studentinnen und Berufseinsteigerinnen mehr Unterstützung zu bieten. Der Mangel an weiblichen Vorbildern in meinem Fachbereich hat mich dazu bewogen, mich als Mentorin zu engagieren. Mein Ziel ist es, jungen Talenten in allen Etappen ihrer Karriere beratend zur Seite zu stehen, um die nächste Generation von Frauen in technischen und naturwissenschaftlichen Berufen zu stärken.«
Prof. Dr. Nicola Marsden ist seit 2003 Professorin für Sozioinformatik an der Hochschule Heilbronn. Daneben engagiert sie sich in verschiedenen Organisationen und leitet das Heilbronner Reallabor des EU-Projekts GILL, das Frauen mehr Teilhabe ermöglichen möchte.
»Als Sozialpsychologin beschäftige ich mich mit den Themen Bias, Stereotype, Diskriminierung. Gleichzeitig hatte ich immer ein Faible für Technologie, kam früh mit der IT-Branche in Kontakt und befasste mich mit Prozessen in der Softwareentwicklung. Die zentrale Frage lautete: Wie müssen neue Systeme gestaltet sein, damit sie allen dienen? In der KI-Branche heute ist es ähnlich. Wir wollen wissen, wie es gelingen kann, dass gesellschaftliche Bias sich nicht in den Systemen abbilden. Das führte zu meiner Professur. Denn es zeigt sich, dass die großen Probleme bei der Software- und jetzt KI-Entwicklung nicht technischer Art sind. Sie entstehen in sozialen Prozessen.
Aus unseren Untersuchungen weiß ich, wie mühsam es für Frauen in der IT-Branche ist, sich ständig behaupten zu müssen. Wenn sie dann allein in Teams sind, fehlt es ihnen an Rückendeckung. Auch deshalb ist es wichtig, Zusammenschlüsse zu schaffen, Netzwerke und Safe Spaces.«
Sladjana Schmidt kommt aus Belgrad, Serbien. Sie studierte Computerlinguistik in Tübingen und war danach einige Jahre in der Finanzbranche tätig, in mehreren Führungspositionen. Seit April 2023 arbeitet sie bei der appliedAI Initiative GmbH als Head of Partnerships. Die Initiative unterstützt Unternehmen ganzheitlich bei der KI-Transformation.
»Bevor ich nach Deutschland kam, habe ich über typisch männliche oder weibliche Berufe nie nachgedacht. Bei uns war es üblich, dass beide Eltern arbeiten, ich wuchs mit der Überzeugung auf, dass ich machen konnte, was ich wollte. So wählte ich mein Studium. Dass ich im Berufsleben meist von Männern umgeben war, machte mir nichts aus. Mir fiel nur auf, dass die Leute überrascht waren, wenn sie hörten, was ich mache – als würde man das von einer Frau nicht erwarten.
Es war eine Herausforderung, jung und mit Migrationshintergrund Führungskraft zu werden, später den Job mit zwei Kindern zu managen. Ich hatte kaum weibliche Vorbilder, die mir gezeigt hätten, wie man erfolgreich Karriere und Familienleben meistert, daher teile ich heute meine Erfahrungen als Mentorin. Um mehr Frauen für die KI-Welt zu gewinnen, muss man diese entmystifizieren. Nicht jeder hockt einsam vor seinem Laptop. Die Branche bietet viele Tätigkeitsfelder. Für diese Technologie braucht es Ökosysteme, Partnerschaften, Zusammenarbeit und keine Einzelgänger. Nur so können wir diese Herausforderung meistern.«