»Es geht darum, Effizienz zu steigern und Ressourcen zu schonen«

Wenn eine Maschine weiß, wann ein Ersatzteil getauscht werden muss, sind in der Regel »Kognitive Dienstleistungen« im Einsatz: Algorithmen, die auf Basis zahlreicher Daten Zukunftsszenarien errechnen und Handlungen empfehlen. Im Interview erläutert Dr. Jens Neuhüttler die Rolle solcher »Smart Services« für die Zukunft von Städten und Unternehmen.

 

© Martin Albermann

Herr Neuhüttler, warum erfährt das Thema »Kognitive Dienstleistungen« plötzlich so eine enorme Aufmerksamkeit – und erhält mit dem KODIS gar eine eigene Forschungseinrichtung auf dem Bildungscampus Heilbronn?

Das hat sicher damit zu tun, dass sich seit einiger Zeit in diesem Bereich völlig neue Möglichkeiten auftun. Im Kern geht es bei Dienstleistungen darum, Kundinnen und Kunden bei bestimmten Aufgaben möglichst einfach und wertbringend zu unterstützen – vom Bezahlen im Parkhaus bis zur Wartung eines Windrads. Das Ziel ist, dass all die Vorgänge, die für das Funktionieren der modernen Gesellschaft zentral sind, möglichst reibungslos verlaufen. Neu ist, dass wir solche Dienstleistungen auf der Basis einer Vielzahl - von unterschiedlichen Daten entwickeln können. So können wir beispielsweise Daten aus der Vergangenheit nutzen, um bessere Entscheidungen für die Zukunft zu fällen. Wir können, wenn man so will, auf neue Weise aus Erfahrungen lernen und viele Zusammenhänge berücksichtigen. Das öffnet die Tür zu einem neuen Denken.

Haben Sie dafür ein Beispiel?

Bleiben wir beim Beispiel Parkhaus. Denkbar wäre, dass mir ein Parkhaus Informationen darüber sendet, wo gerade ein Platz frei ist – das ist simple Sensorik. Kognitive Dienstleistungen kommen ins Spiel, wenn das Parkhaus mir schon am Vortag sagen kann, wie voll es am nächsten Morgen um 9 Uhr sein wird. Möglich wird die Prognose durch eine Vielzahl von Daten: Welchen Wochentag haben wir? Wie wird das Wetter? Ist eine Veranstaltung in der Nähe? Sind vielleicht Ferien? Wenn man den Algorithmus richtig trainiert hat, errechnet er auf der Basis historischer Daten ein Zukunftsszenario, das mit hoher Wahrscheinlichkeit eintreten wird. Das ist im Grunde genommen Probabilistik – Wahrscheinlichkeitsrechnung.

Wo kommen solche Systeme denn heute schon zum Einsatz?

In der Industrie etwa im Bereich der Wartung großer Maschinen. So lässt sich relativ zuverlässig berechnen, welche Komponenten und Teile wann verschlissen sind und ersetzt werden müssen. Die Basis dieses »Predictive Maintenance«, der vorausschauenden Wartung, sind einerseits Sensordaten, die uns darüber informieren, wie intensiv eine Maschine in Betrieb war. Und zum anderen Informationen darüber, wie lange die jeweiligen Einzelteile erfahrungsgemäß halten. Wir haben es hier mit einem Meer an Daten zu tun, aus dem der Algorithmus in Sekundenbruchteilen die richtigen Schlüsse ziehen kann. Solche Systeme können Unternehmen helfen, die Wartung besser zu planen und Maschinenausfälle zu verhindern. Von der Wartung von Windrädern über den Betrieb von Fernwärme- oder Wasserstoffnetzen bis zur Leerung großer Unterflurmülleimer: Smarte Systeme empfehlen uns, was wann zu tun ist. Sie können den Organisationsgrad und die Effizienz des Lebens in der modernen Gesellschaft enorm steigern – und auf diese Weise auch Ressourcen schonen.

Inwiefern helfen sie, Ressourcen zu schonen?

Die Aufgabe des Teams Digital Service Transformation am KODIS, das ich leite, ist es in erster Linie, produzierende Unternehmen dabei zu unterstützen, solche » Smart Services « zu entwickeln. Nehmen wir mal einen Maschinenbauer, von denen es hier in der Region sehr viele gibt. Bislang bestand das Geschäftsmodell solcher Unternehmen darin, Maschinen zu verkaufen. Wenn die Maschine nun aber permanent Daten liefert, lässt sich beobachten, ob sie tatsächlich effizient genutzt wird. Braucht der Kunde überhaupt, sagen wir, fünf solcher Maschinen? Oder braucht er im Winter vier und im Sommer nur drei – und die fünfte ist sowieso nur zur Sicherheit da? Wenn ich Transparenz über diese Daten habe, kann ich als Maschinenbauer neu denken: Anstelle von Maschinen könnte ich künftig Maschinenleistung oder sogar deren Ergebnisse verkaufen. Bei Druckluft, die in der Industrie in großen Mengen benötigt wird, passiert das schon. Hier werden keine Kompressoren mehr verkauft, sondern Druckluft, gemessen in Kubikmetern. Das bedeutet, der Kunde und seine individuellen Bedarfe werden bei der Leistungserbringung permanent berücksichtigt.  Auf diese Weise entstehen völlig neue Geschäftsmodelle. Wir sprechen hier über maßgeschneiderte Lösungen, die Effizienz steigern und, weil viel weniger Maschinen ungenutzt herumstehen und Wartungseinsätze besser geplant werden, Ressourcen schonen.

© Martin Albermann
»Transparente Daten sind der Schlüssel zu neuen Services und Geschäftsmodellen.« Dr. Jens Neuhüttler, Leiter Forschungsbereich Kognitive Dienstleistungssysteme und Leiter Team Digital Service Transformation am Fraunhofer IAO

Wenn es diese Lösungen schon gibt, warum sind sie nicht längst viel verbreiteter?

Die Umstellung vom Verkauf von Maschinen auf die Bereitstellung von Maschinenleistung ist ein großer Schritt, denn zunächst mal entsteht ja eine Finanzierungslücke. Eine komplexe Maschine kostet im Verkauf oft mehrere Hunderttausend Euro. Wer lediglich ihre Leistung verkauft, stellt auf eine Art Abo-Modell um. Das verändert die Erlösströme fundamental. Auf lange Sicht kann ein Anbieter von der engen Interaktion mit dem Kunden zwar profitieren. Und viele dieser neuen Geschäftsmodelle lassen sich auch gut skalieren. Aber erstmal hat man als Anbieter weniger Geld in der Hand, nämlich nur den Preis des »Monats-Abos« und übernimmt zusätzlich Risiken für den Betrieb der Maschinen. Außerdem funktionieren in vielen Fällen die alten Geschäftsmodelle ja noch ganz gut. Es braucht also schon ein besonderes Mindset, um umzudenken, während die Auftragsbücher voll sind. Interessanterweise fällt es Familienunternehmen in der Regel viel leichter, solche langfristigen Ziele zu verfolgen als Aktiengesellschaften, die an der Jahresbilanz gemessen werden. Die Folge davon ist zu oft eine zu kurzfristige Denke.

Welche technischen Hürden gibt es auf dem Weg zu diesen neuen Modellen?

Die größte Herausforderung ist es, viele unterschiedliche Daten zusammenzubringen. Allein innerhalb einer Maschine haben wir es einer Vielzahl von Daten zu tun. Hier braucht es Plattformen, auf denen alles zusammenläuft. Das können Datenplattformen sein, auf denen man Informationen sammelt. Oder Serviceplattformen, über die ein Unternehmen seinen Kunden zusätzliche Services anbieten kann. Und dann gibt es noch Matchingplattformen, die ein bisschen wie Datingportale funktionieren. Sie helfen Anbietern und Kunden, zueinander zu finden.

Das Problem ist, dass es mit hohem Aufwand und hohen Kosten verbunden ist, solche Plattformen zu betreiben. Es braucht eine komplexe Software und Server, die vor Hackern geschützt sind. Das lohnt sich alles erst ab einer bestimmten Anzahl von Nutzenden. Aus diesem Grund tun sich Unternehmen mittlerweile sogar zusammen, um solche Plattformen zu entwickeln und zu betreiben. Das können auch Unternehmen sein, die eigentlich Konkurrenten sind, an dieser Stelle aber in einem abgegrenzten Umfang zusammenarbeiten. Wir nennen das » Coopetition«: Kooperation und Competition unter einem Dach. Konkret bedeutet das: Infrastrukturen werden geteilt, auf der Ebene der wertstiftenden Services aber agiert jeder für sich. Leider gibt es noch nicht so viele Beispiele für solche Formen der Zusammenarbeit.

Warum nicht?

Unternehmer sind es gewohnt, autonom zu entscheiden. Sie machen sich nicht gern abhängig von den Entscheidungen anderer. Wer in Netzwerken agiert, muss umdenken.  Noch komplizierter wird es, wenn wir über Services innerhalb von Stadtsystemen reden. Wir haben zum Beispiel mal im Rahmen eines Projekts mit der Stadt Reutlingen untersucht, wie man die großen Unterflur-Müllbehälter, die es im Stadtraum gibt, nach Bedarf leeren kann. Das Ziel war es, zu prognostizieren, wann so ein Müllsammler voll sein wird. Dafür braucht man auch wieder eine Vielzahl von Informationen. Verkehrsdaten oder Daten von Bluetooth-Trackern zum Beispiel verraten, wie viele Menschen draußen unterwegs sind. Informationen über Veranstaltungen oder Wetterdaten etwa müssen zusätzlich berücksichtigt werden. Die Frage ist also: Wer stellt die Daten zur Verfügung? Unter welchen Bedingungen? Und wie integriert man sie dann? Wo viele unterschiedliche Player an einem System teilnehmen, muss all das genau geregelt sein.

Woran kann eine »Kognitive Dienstleistung« eigentlich scheitern?

In erster Linie an mangelnder Akzeptanz durch den Menschen. Man muss sich immer vor Augen führen, dass wir diese Services nicht um ihrer selbst willen einführen, sondern um das Leben und die Arbeit der Menschen zu erleichtern. Gegen Roboter in der Pflege etwa regt sich immer Widerstand, weil die Leute befürchten, die Roboter sollten die Pflegenden ersetzen. Wenn das Ziel aber ist, dass der Roboter sie entlastet, indem er Wäsche wegbringt oder stets die korrekte Dosis von Medikamenten zur Verfügung stellt, sieht die Sache schon anders aus. Dann haben die Pflegerinnen und Pfleger nämlich plötzlich mehr Zeit, sich um die Menschen zu kümmern und allen ist geholfen. Anderes Beispiel: Wer möchte morgens in der Bäckerei schon von einem Roboter bedient werden? Ein wirklich smarter Service verhindert menschliche Begegnungen nicht. Er erleichtert das Drumherum.

Zu den Branchenlösungen des KODIS

Dissertation

»Ein Verfahren zum Testen der wahrgenommenen Qualität in der Entwicklung von Smart Services«

Veranstaltung

»Innovationsplattform Digitaler Service«